Erster Weltkrieg
100 Jahre Tränengas
AFP
Der Erste Weltkrieg hat zweifellos tödlichere Innovationen hervorgebracht als den Einsatz von „Xylylbromid“ oder „Bromessigsäureethylester“, aber trotzdem stehen diese chemischen Verbindungen symbolisch für die Zeitenwende, die sich vor 100 Jahren vollzog.
Der Weltkrieg kann als Geburt des Massenzeitalters empfunden werden – auch deswegen, weil die Waffen, die in ihm entwickelt, erprobt und eingesetzt wurden, in ihrer Wirkung nicht mehr auf Individuen zielten, sondern auf Flächen, Abschnitte und Stellungen. Deswegen markiert der erste Beschuss mit Tränengas-Granaten, die französische Artillerie im August 1914 gegen deutsche Frontabschnitte feuerte, nicht nur eine technische Neuerung. Damit kam eine neue Philosophie der Gewalt zum Vorschein, die ihre Opfer zufälliger und unterschiedsloser traf, als es zuvor Gewehrkugeln oder Geschützgranaten vermocht hatten.
Die Franzosen hatten im August 1914 nicht viel von ihrem Innovationsvorteil. Erstens erwiesen sich die Bromverbindungen, die von der Pariser Polizei entwickelt worden und mit Signalpistolen zu verschießen waren, im freien Gelände als viel zu flüchtig, um eine anhaltende Wirkung erzielen zu können; sie waren in ersten Feldversuchen vor allem für den Häuserkampf oder die Erstürmung von Befestigungen gedacht gewesen. Zweitens kannten auch die Deutschen schon die Schleimhaut reizende Wirkung der Xylyl-Bromide, die unter dem Namen „Fliedergas“ bekannt waren – und setzten ihrerseits die Reizgase erstmals im Januar 1915 an der Ostfront ein. Allerdings erwiesen sich auch ihre ersten Gas-Angriffe als wenig effizient: die chemischen Flüssigkeiten verdampften bei den niedrigen Temperaturen nur ungenügend und hatten deswegen nur eine unzureichende Wirkung.
Archiv
Mit Gasmaske: Bedienungsmannschaften eines Artilleriegeschützes schauen in die Kamera des Fotografen. Tränengaseinsätze wie im April 1914 bildeten den vergleichsweise harmlosen Auftakt des Gaskrieges. In den Jahren darauf sollten die Gegner versuchen, mit immer hinterhältigeren Mischungen ein Massensterben in den gegnerischen Gräben herbeizuführen. Erfolglos.
In der Brutalität des Massenkrieges bildeten die Reizgas-Versuche des Jahres 1914 nur einen ersten Schritt auf dem Weg zu verbreiteten Einsätzen tödlicher Giftgase. Als deren Eintrittsdatum auf dem Schlachtfeld gilt der 22. April des Jahres 1915, an dem das deutsche XV. Armeekorps in der Zweiten Flandernschlacht bei Ypern erstmals 150 Tonnen Chlorgas nach dem sogenannten „Haberschen Blasverfahren“ auf die gegnerischen Stellungen strömen ließ. Der deutsche Chemiker und spätere Nobelpreisträger Fritz Haber erwarb sich durch seine chemischen und technischen Forschungen in den ersten Kriegsjahren den Beinamen „Vater des Gaskriegs“. Er experimentierte mit Chlorgasen, die tödliche Lungenödeme hervorriefen, und bald auch mit Verbindungen, die durch Phosphor in ihrer Wirkung verstärkt waren.
Den Tränengasen kam im Verlauf des Krieges eine Hilfsrolle zu: sie wurden auf deutscher Seite unter anderem verwendet, um bei den durch Gasmasken geschützten Gegnern Übelkeit und Erbrechen zu erzeugen – und sie dadurch zum Absetzen der Masken zu verleiten. Die Briten wiederum setzten Reizgas in Granaten in Verbindung mit tödlichen chemischen Gasen ein – in der Annahme, die Gegner würden das als erstes spürbare Tränengas als „harmlos“ empfinden und sich nicht sogleich mit Gasmasken gegen den Angriff schützen.
Die Verbindung zwischen Tränengasen und chemischen Todesgasen riss in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ab. Die faktische Ächtung der Chemiewaffen – die bei ihrer Einführung in den Stellungskrieg noch als besonders „human“ und fortschrittlich gegolten hatten – führte dazu, dass im Zweiten Weltkrieg dieses Kampfmittel bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr benutzt wurde.
picture alliance
Unheimliches Portrait: Dieses Foto, erschienen am 14. Oktober 1917 in der „Berliner Illustrierten Zeitung“ zeigt einen deutschen Offizier mit Gasmaske. Die Bildunterschrift lautete damals: „Vom Minenkrieg. Selbstrettungsapparat für Minensappeure.“
Die Strategen der Polizeikasernen hingegen hielten Reizgase weiterhin für ein probates Mittel, um Massenansammlungen zu zerstreuen oder Demonstranten am Sturm von geschützten Gebäuden zu hindern. Je weiter sich die Daten ziviler Unruhen der Gegenwart nähern, desto präsenter werden die Polizeieinsätze, bei denen Tränengas Verwendung findet. Die Bilder reichen von den Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten über die Studentenproteste in Paris, Frankfurt und Berlin, über die Unruhen in Belfast und Derry, über Tränengas-Einsätze der Israelis gegen Palästinenser in den Zeiten der Intifada bis hin zu den massiven Attacken der türkischen Polizei gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul, denen im vergangenen Jahr auch die damalige Grünen-Vorsitzende Claudia Roth zum Opfer fiel. Ihr von Schleimhaut-Reizungen malträtiertes Gesicht ging damals durch alle deutschen Zeitungen.
Und obwohl das Tränengas aus dem militärischen Arsenal in vielen Ländern schon vor Jahrzehnten verschwand und eher in den Waffenkammern von Polizei-Einheiten eingelagert wurde, spielte es doch in quasi-militärischen Auseinandersetzungen immer wieder eine Rolle. Zu den merkwürdigsten Einsätzen zählten die Tränengas-Duelle, die sich nach dem Bau der Berliner Mauer ostdeutsche Vopos und West-Berliner Polizisten über den Stacheldraht hinweg lieferten. Die DDR-Volkspolizisten schossen gelegentlich Tränengas-Granaten auf West-Berliner Gebiet, beispielsweise um Lautsprecherwagen des Berliner Senats zu vertreiben, die an der gesperrten Sektorengrenze entlangfuhren und Botschaften in den Ostsektor schallen ließen. Die West-Berliner Beamten feuerten dann ihrerseits Tränengaskörper zurück.
Auch die Klassifizierung des Tränengases in der Kategorie „nicht letaler Waffen“ stellte sich bei massiven Einsätzen immer wieder als irreführende Verharmlosung heraus: Mitunter verletzten abgefeuerte Granaten einzelne Demonstranten direkt schwer oder gar tödlich, oder der Gaseinsatz der Polizei erzeugte eine Massenpanik, in der es zu Todesopfern kam – im Mai diesen Jahres starben im Fussballstadion der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa 15 Menschen bei einer Massenflucht, die durch den Beschuss mit Tränengas hervorgerufen worden war.
picture alliance
Auch am Vorabend des Zweiten Weltkriegs waren die Erfahrungen mit dem Einsatz chemischer Kampfstoffe in Europa noch frisch. Überall in Europa rechnete man damit, dass im Falle eines neuen Krieges abermals Tränengas und andere Gase eingesetzt würden, wie dieses Foto zweier tschechischer Kinder aus dem Jahr 1938 zeigt. Doch es kam anders. Selbst die Nazis verzichteten darauf, Giftgas einzusetzen. Hitler schreckte davor zurück, er war im Ersten Weltkrieg während eines Gasangriffs verwundet worden.
Aus deutschen Polizeibeständen ist Tränengas in den vergangenen Jahren übrigens weitgehend verschwunden. Stattdessen hat sich der Gebrauch von Pfefferspray – das nach seinem Wirkstoff eigentlich Paprika- oder Chilispray heißen müsste – verbreitet, weil dessen Reizstoffe weniger gesundheitsgefährdend sind. Außerdem, so die Erfahrungen der Berliner Polizei, wirke es im Einsatz gegen Betrunkene besser als das zuvor verwendete CS-Reizgas.
picture alliance
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte das Tränengas eine Hochphase, die bis heute anhält. Statt in Kriegen wird das Reizgas seitdem vor allem eingesetzt, um gegen Demonstranten vorzugehen. Das Foto zeigt einen amerikanischen Polizeieinsatz gegen eine Menschenmenge in Canton/Mississippi im Jahr 1966.
picture-alliance
Ein Polizist schleudert eine Tränengasgranate in die Menge demonstrierende Studenten in Paris, 1968.
Barbara Klemm
Auch in Deutschland wurde seit den 1960er Jahren Tränengas eingesetzt. In der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition setzte es die Polizei unter anderem ein, um Demonstranten aus besetzten Häusern wie hier in Frankfurt zu vertreiben, 1971.
picture alliance
Mit Gasmasken ausgerüstet blicken DDR-Grenzsoldaten am 21.Juni 1988 über die Mauer am Potsdamer Platz in Berlin. Nach Steinwürfen von West-Berliner Demonstranten auf die West-Berliner Polizei hatten die Beamten Tränengas eingesetzt, die Schwaden zogen nach Osten.
Karl-Bernd Karwasz
In den achtziger Jahren ist Wackersdorf einer der Brennpunkte der Anti-Atomkraft-Bewegung. Auch hier setzt die Polizei Tränengas gegen gewalttätige Demonstranten ein.
REUTERS
Der Protest für den Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul wird 2013 zum landesweiten Protest gegen die Regierung Erdogan. Die Polizei geht brutal gegen die Demonstranten vor. Zum Symbolbild für die überzogene Polizeigewalt wird das Foto der Frau mit dem roten Kleid, die von einem Polizisten mit Tränengas angegriffen wird.
picture alliance
Auch die israelischen Sicherheitskräfte setzen bei Auseinandersetzungen mit gewalttätigen Palästinensern Tränengas ein. Hier schießt ein Demonstrant eine Kartusche im Westjordanland mit einem Tennisschläger zurück, 2014.