Der alte Mann und der Wald

Von REINER BURGER (Text) und EDGAR SCHOEPAL (Fotos/Videos)
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Foto: JFK-Library

Die Schlacht vom Hürtgenwald vor siebzig Jahren zählte zu den grausamsten des Zweiten Weltkriegs. Amerikaner und Deutsche erlitten gewaltige Verluste. Ernest Hemingway war als Kriegsreporter dabei. Den berühmten Schriftsteller ließ das Gemetzel sein Leben lang ebenso wenig los wie Robert Hellwig, der als Kind die Bomben und die blutigen Kämpfe durchlitt. Auf Spurensuche in der Nordeifel.

Der Phosphor hatte sich entzündet. Bald stand der Wald in hellen Flammen, Minen explodierten, Granaten, Patronen. Für ein paar Stunden schien der Krieg in den Hürtgenwald zurückgekehrt zu sein. Hört denn diese Schlacht nie auf? Für den acht Jahre alten Robert Hellwig war es 1947 einfach ein großes Abenteuer: mit dem Vater und dem Bruder nach dem Feuer in den verkohlten Spukwald gehen, um zu sehen, was er diesmal preisgab. Die Amerikaner hatten unglaublich viel stehen und liegen lassen, als die mörderische Schlacht nach Monaten endlich geschlagen war. Nicht nur Pistolen und Gewehre, sondern auch Konserven, die in den Nachkriegsjahren wertvoller waren als Gold.

Robert Hellwig im Interview Video: Edgar Schoepal

Es war eine gefährliche Suche, dem Tod so nah. Überall lagen noch Minen der Wehrmacht im Boden. Die drei kamen an einem Stapel Granaten vorbei, die in Pappkartuschen verpackt waren. Wenn die hochgehen! Schnell nach Hause! Da! Auf dem hastigen Weg zurück lag dann dieser Tote am Boden. Ein verbranntes Skelett. Robert Hellwig erinnert sich, wie sehr ihn der schöne Kontrast faszinierte: Das weiße Gerippe auf dem verkohlten Boden. „Fass es bloß nicht an, sonst fällt es zusammen“, sagte der Vater.

Gut drei Jahre davor, von Spätherbst 1944 bis Anfang 1945, war die Nordeifel Schauplatz einer der längsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs im Westen – einer mit den größten Verlusten. In Amerika ist die Hürtgenwald-Schlacht bis heute ein Begriff. Das hat ein wenig damit zu tun, dass auch der spätere Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway an ihr teilnahm. Vor allem aber ist Hürtgenwald in der amerikanischen Militärgeschichtsschreibung ein Synonym für ein schmerzvolles Debakel. Denn es „war die verlustreichste, unproduktivste und am schlechtesten geführte Schlacht, die unsere Armee geschlagen hat“, wie der Kommandeur einer Fallschirmjägerdivision nach dem Kampf bitter urteilte. Mehr als 20 000 Soldaten verloren die Amerikaner.

Geschäftstüchtige amerikanische Programmierer haben den Kampf, der im Dezember 1944 in der Eifel um „Hügel 400“ tobte, sogar als Mission in das populäre Computer-Ballerspiel „Call of Duty“ eingebaut. „Los Taylor, Bewegung“, ruft darin ein Offizier. „Vorsicht, Deutsche.“ Taylor wirft eine Handgranate. Dann läuft der amerikanische Soldat durch den Wald, schießt hier einen Deutschen ab und dort, sucht Deckung. Anschließend bringt Taylor an einem Bunker eine Sprengladung an. Es gibt eine gewaltige Explosion. Grausamer Höhepunkt in der realen Hölle vom Hürtgenwald vor siebzig Jahren war aber nicht dieser Kampf im Dezember, sondern die „Allerseelenschlacht“ vom 2. bis zum 8. November.

Hier bekämpften sich Amerikaner und Deutsche von Oktober 1944 bis Februar 1945 Karte: F.A.Z.

Amerikanische Truppen waren im Sommer viel schneller von Westen her vorgerückt als gedacht. Schon am 12. September, nur 96 Tage nach der Landung in der Normandie, standen sie am Westwall bei Aachen. Auf ernsthaften Widerstand stießen sie zunächst nicht. „Setz’ den Kaffee auf, die Amerikaner kommen“, sagte Robert Hellwigs Vater zu seiner Frau, als er von einer privaten Erkundungstour mit dem Motorrad zurückgekommen war. Es schien, als würde der Krieg in den kleinen Eifeldörfern nun ganz schnell zu Ende sein. Schließlich war das Gebiet nahe Roetgen und auch Monschau schon unter amerikanischer Kontrolle.

An diesem Baum verewigte sich ein G.I. aus Texas Foto: Edgar Schoepal

Robert Hellwig ist im Wald unterwegs. Mit seinem Gehstock zeigt er auf eine mächtige Rotbuche. „Ich nenne sie Texas-Buche.“ Mit etwas Mühe lässt sich auch nach 70 Jahren noch entziffern, was ein amerikanischer Soldat in die Rinde schnitzte: „R.D. McArthur; 21.9.44; Texas/USA“. Hellwig zieht die Buchstaben sorgfältig mit Kreide nach, die Ritzung ist über die Jahrzehnte ziemlich ausgeweitet. „Warum nur ist dieser McArthur mit seinen Kameraden nicht einfach weitermarschiert?“ Die Amerikaner hätten zu diesem Zeitpunkt doch ohne den Umweg über die Berge und durch die Täler der Eifel ganz schnell den Rhein erreichen, weit ins Reich vorstoßen können. „Vielleicht wäre die Weltgeschichte ganz anders verlaufen.“

Der alte Mann erinnert sich gut, wie die Leute in Kleinhau, Großhau, Schmidt, Vossenack, Hürtgen und den anderen Dörfern ringsum begannen, Löcher und Gräben in den Wäldern auszuheben, weil sie glaubten, es gelte nur den Durchmarsch auszusitzen – damals, im September 1944.

Doch die Amerikaner kamen nicht. Noch nicht. Sie waren Opfer ihres Sommers der vielen Siege geworden. Es gelang ihnen nicht, zügig Nachschub heranzuführen. Bis Ende September drangen sie nur wenige Kilometer auf Reichsgebiet vor, etwa auf die Höhe der „Texas-Buche“. Die Wehrmacht nutzte die Zeit, um ihre angeschlagenen Truppen neu aufzustellen, frische Kräfte aus dem Osten heranzuführen und die Verteidigung zu organisieren.

Auch heute noch stehen die mächtigen Panzersperren des Westwalls wie ein Mahnmal an die Schrecken des Krieges Foto: Edgar Schoepal

Für einen langwierigen Kampf im schwarz-grünen Baumozean der Nordeifel waren die amerikanischen Soldaten weder ausgebildet noch ausgerüstet. Der Einsatz schwerer Fahrzeuge im gebirgigen Waldgebiet, in dem sich der deutsche Gegner bestens auskannte, war nicht möglich. Zwar war der Westwall an vielen Stellen verfallen, doch gelang es den Verteidigern, den dichten Wald mit Schützengräben, mit Tausenden Minen und in Bäumen versteckten Scharfschützen in eine Festung zu verwandeln. Fürchterliche Verluste erlitten die Amerikaner durch Baumkrepierer – Granaten, die so eingestellt sind, dass sie in Höhe der Wipfel detonieren, damit Holzsplitter ihre tödliche Wirkung noch verstärken. Im Oktober verschluckte der dichte, feuchte Wald den amerikanischen Angriff regelrecht. Und die Nationalsozialisten bemühten in ihrer Propaganda den Mythos vom deutschen Wald, in dem seit Hermann dem Cherusker feindliche Divisionen stecken blieben. Allerdings musste auch die Wehrmacht schwere Verluste hinnehmen.

Tausende Amerikaner fielen in der „Allerseelenschlacht“, die am 2. November 1944 begann. Foto: Edgar Schoepal

Anfang November, in den frühen Eifeler Winter, den Matsch und den Schlamm hinein, starteten die Amerikaner einen neuen Angriff: eben die „Allerseelenschlacht“. Erbittert wurde um Orte wie Vossenack, Hürtgen, Kleinhau und Schmidt gekämpft. In Vossenack verlief die Front eine Weile quer durch die Pfarrkirche. Zeitweise machten beide Seiten keine Gefangenen mehr. Nach sechs Tagen „Allerseelenschacht“ war die Bilanz schockierend: Mehr als 6100 Amerikaner waren gefallen, verwundet oder den Deutschen in die Hände gefallen. Es sind die schwersten Verluste, die eine amerikanische Division während des Zweiten Weltkriegs erlitten hatte. Auf deutscher Seite lagen die Verluste bei rund der Hälfte.

Unmittelbar nach der infernalischen „Allerseelenschlacht“ kam Ernest Hemingway in den Hürtgenwald. Der Schriftsteller hatte schon heroisierende Kriegsreportagen für ein amerikanisches Magazin verfasst. Über die Landung in der Normandie und natürlich die Einnahme von Paris hatte er berichtet. Doch eine Reportage aus dem Hürtgenwald brachte er nicht zustande. Erst in seinem 1950 erschienenen merkwürdigen Kurzroman „Über den Fluss und in die Wälder“, der von einem Weltkriegsveteranen handelt, der in Venedig in den Armen seiner Teenager-Geliebten vor sich hinstirbt, flocht der Autor auf wenigen Seiten traumatische Hürtgenwald-Erlebnisse ein. „In Hürtgen gefroren sie alle einfach, und es war so kalt, dass sie mit roten Gesichtern gefroren.“ Man habe eine gewisse Menge Ersatz bekommen, aber „ich dachte, es würde einfacher und zweckdienlicher sein, sie in der Gegend, wo man sie auslud, zu erschießen, als den Versuch machen zu müssen, sie von dort, wo sie getötet wurden, zurückzuschaffen und zu begraben.“

An der Front: Hemingway (links) studiert eine Geländekarte Foto: JFK-Library

Hemingway verherrlichte den Krieg. Manche seiner Biographen und Exegeten glauben aber, im Hürtgenwald habe der Macho, Großwildjäger und Hochseefischer seine Meinung über den Krieg völlig geändert. Amerikanische Soldaten nannten den Wald eine „Todesfabrik“. Der Schriftsteller soll in der Eifel recht komfortabel mit Koch, Chauffeur und Fotograf residiert haben. Sogar eine spezielle Alkohol- und Rauchwarenration soll Hemingway gehabt haben. In späteren Jahren hatte er dann das Bedürfnis, in Briefen mit den vielen deutschen Soldaten zu prahlen, die er als Kriegsreporter im Ersten und Zweiten Weltkrieg getötet habe. 122 sollen es angeblich gewesen sein. Seinen deutschen Verleger ließ Hemingway einmal wissen, er sei froh, „dass Sie nicht zu den zahlreichen Krauts gehörten, die wir in der Schnee-Eifel und im Hürtgenwald umgebracht haben“.

Hemingway war nicht zimperlich. Als Kriegsreporter verstieß er gegen die Uniformordnung, trug unerlaubt Waffen. Doch seine Tötungsbekenntnisse gelten in der Wissenschaft als Aufschneiderei. Sie seien „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Phantasie des alternden Dichters“ entsprungen, urteilte vor sieben Jahren ein Gutachter. Hemingway, der sich mit Hochprozentigem auf Betriebstemperatur zu bringen pflegte, war auch in seinen journalistischen Arbeiten stets ein Grenzgänger zwischen Dichtung und Wahrheit. Den großen Roman über den Zweiten Weltkrieg, für den er auch im Hürtgenwald Material sammeln wollte, schrieb er nie. „Über den Fluss und in die Wälder“ fiel bei Kritikern als sentimental und gekünstelt durch.

Ein Stück Weltliteratur aber entstand dennoch vor 70 Jahren im Hürtgenwald. Ein junger Soldat namens J. D. Salinger schrieb in Kampfpausen den ersten Teil seines Buchs „Der Fänger im Roggen“. Man kann sich das kaum vorstellen: Salinger begann wirklich im Schützengraben sein mitreißendes Meisterwerk über den „American Way of Life“, das ihn weltberühmt machte. Der „Fänger“ blieb sein einziger Roman. Salinger, der unter einem Kriegsschock litt, veröffentlichte später noch Kurzgeschichten und Novellen, von 1965 an aber keine einzige Zeile mehr. Kurz nach seinem Tod vor vier Jahren tauchte ein Brief auf, in dem er erwähnt, wie er Hemingway 1944 einmal in seiner Hürtgenwald-Residenz besuchte.

  • Amerikanische Soldaten passieren zerstörte Häuser an der Hürtgener Höhenstraße Foto: Edgar Schoepal/Geschichtsverein Huertgenwald e.V
  • Ein amerikanischer Jeep vor einem zum Hotel ernannten Haus Foto: Edgar Schoepal/Geschichtsverein Huertgenwald e.V
  • Die zerstörte Dorfkirche von Hürtgen Foto: Edgar Schoepal/Geschichtsverein Huertgenwald e.V
  • Der Ortseingang von Hürtgen mit Tarnnetzen Foto: Edgar Schoepal/Geschichtsverein Huertgenwald e.V

Ende November 1944 gelang es den Amerikanern schließlich, Hürtgen einzunehmen. Zu Ende aber war die Schlacht im Hürtgenwald erst Anfang 1945. Nach dem Scheitern der deutschen Ardennenoffensive gingen die Kämpfe weiter. Erst am 8. Februar eroberten die Amerikaner den erbittert umkämpften Ort Schmidt. Nach den monatelangen Kämpfen waren Dörfer und Landschaft zerbombt, die Wälder zerschossen. „Als wir nach Kleinhau zurückkamen, konnten wir unser Haus nicht mehr finden“, erinnert sich Robert Hellwig. „Alles war dem Erdboden gleich.“ Lange musste die Familie in einem Schaustellerwagen wohnen, den ein Onkel in Belgien aufgetrieben hatte.

Manchmal lässt Hellwig unter der Texas-Buche seine Gedanken schweifen. Wenn der Soldat McArthur mit seinen Kameraden im September 1944 schnell hätte durchziehen können, hätte seine Familie Kleinhau nicht Hals über Kopf verlassen müssen, um bei einer Tante im nahen Düren Unterschlupf zu finden. Einen schweren Luftangriff überlebten die Hellwigs in Düren und flüchteten dann weiter nach Mitteldeutschland. Hätten die Amerikaner schnell vorstoßen können im September 1944, dann hätte es im Hürtgenwald nicht Tausende tote Soldaten auf beiden Seiten gegeben. Und nach dem Krieg wären nicht noch Dutzende Eifeler Opfer von Minen geworden. Wie dann auch Hellwigs Vater. Mit einem Traktor fuhr er auf eine Mine. Auch Hellwigs Vater liegt auf einem der beiden Ehrenfriedhöfe. Es sind zwei Wälder aus steinernen Kreuzen auf sanften grünen Hügeln in Hürtgen und Vossenack.

Robert Hellwig im Interview Video: Edgar Schoepal

Zusammen mit seinen Freunden vom Geschichtsverein führt Hellwig im Auftrag der Kommune in einer alten Baracke das Museum „Hürtgenwald 1944 und im Frieden“. Historiker rümpfen die Nase, sprechen von einem Sammelsurium aus Waffen und Fundstücken. Tatsächlich ist die Ausstellung recht unsystematisch. Die amerikanischen Veteranen, die zahlreich in die Eifel kamen, solange sie noch konnten, störte das nicht. „Wir sind alle Laien“, sagt Hellwig. Laien, die heute vor allem auch Schülern deutlich machen wollen, wie schrecklich die Schlacht im Hürtgenwald war.

Hellwig jedenfalls lässt sie nicht los. Auch weil noch so viele Soldaten vermisst sind. Hunderte Tote liegen irgendwo im Waldboden. Immer mal wieder kommen Fachleute einer Spezialeinheit des amerikanischen Verteidigungsministeriums in die Eifel. Sie haben den Auftrag, rund um den Globus nach vermissten amerikanischen Soldaten zu suchen. „Until they are home“, lautet der Wahlspruch der Einheit.

Robert Hellwig vor Gräbern deutscher Soldaten auf dem Gedenkfriedhof in Hürtgenwald-Vossenack Foto: Edgar Schoepal

Der bisher letzte Tote, der entdeckt wurde, war allerdings ein Wehrmachtssoldat. Waldarbeiter stießen auf die Gebeine und die Erkennungsmarke des 19 Jahre alten Benno Schott, als sie den Weg für einen neuen Kletterpark im Hürtgenwald anlegten. Hellwig gelang es, Verwandte Schotts ausfindig zu machen. Er erfuhr, dass Bennos Mutter noch bis zu ihrem Tod in den neunziger Jahren glaubte, ihr Sohn werde eines Tages zurückkommen, obwohl sein letzter Brief aus dem Hürtgenwald doch so wenig Anlass zur Hoffnung gab. „Eben ist wieder eine Granate unweit von meinem Loch krepiert, das kann mich nicht erschüttern“, schrieb Schott Ende 1944 an Mutter und Geschwister. „Gestern hatte ich wieder großes Glück, eine Granate schlug zwei Meter hinter meinen Loch ein, ich stand und beobachtete noch das Feuer, da sauste ein Splitter neben meine Hand, zerfetzte meinen Karabinerriemen und beschädigte etwas den Schaft vom Gewehr. Ja, Schwein muss man haben.“ Nur ein paar Meter von Schott entfernt werden noch zwei amerikanische Soldaten vermutet.

Der bisher letzte aufgefundene Tote war der Wehrmachtssoldat Benno Schott Foto: Edgar Schoepal

Hellwig sucht die weiße Tafel, die an Robert Cahow erinnert, einen amerikanischen Infanteristen, der vor ein paar Jahren gefunden wurde. Überall stehen Kreuze, Gedenksteine im Hürtgenwald. Manchmal schmücken Plastikkränze mächtige Steinhaufen. Daneben die Reste gesprengter Bunker. Hellwig hat Mühe, auf dem Waldboden voranzukommen, der von überwachsenen Laufgräben durchfurcht ist. Er sagt: „Hier starben Freund und Feind Seit’ an Seit’.“

Ein Meer von Steinkreuzen auf der letzten Ruhestätte der gefallenen deutschen Soldaten Foto: Edgar Schoepal