Im Tempel

„Und als er aus dem Tempel kam, sagte zu ihm einer seiner Jünger: ‚Meister, schau was für Steine und was für Bauwerke!‘” An dieser Stelle des Markusevangeliums – und der Parallelstelle bei Lukas – hat möglicherweise das einzige Stück des damaligen Jerusalem biblische Erwähnung gefunden, das heute noch im öffentlichen Raum zu sehen ist. Wenn Jesus nämlich den Tempelberg über einen der Ausgänge an der Westseite verlassen hat, dann könnten er und jener Jünger die wohlbe hauenen Quader aus feinem Meleke-Kalkstein vor Augen gehabt haben, die heute den „Kotel“ bilden, die sogenannte Klagemauer. Vielleicht kam er auch über die riesige Treppenbrücke an der Südwestecke herunter, einer städtebaulich besonders auffälligen Struktur. Ihr Rest, nach seinem Entdecker im 19. Jahrhundert „Robinsons Bogen” genannt, ist heute nebst anderen Tempeltrümmern im Jerusalemer Archäologischen Park zu sehen. Doch auffällig war eigenlich die ganze Tempelanlage, die Herodes der Große vom Jahr 21 v. Chr. an errichten ließ und die zu Jesu Zeiten noch nicht ganz fertig war. Sie stand auf einer in gewaltigen Einfassungsmauern aufgeschütteten Plattform, eben dem Tempelberg. Herodes hat die Plattform seiner Vorgänger bis auf die doppelte Grundfläche der Akropolis in Athen erweitert. Der Kotel ist ein Abschnitt im Südwesten der herodianischen Stützmauer. Der Gesamtkomplex, bei dessen




Beschreibung sich Flavius Josephus vor Begeisterung geradezu überschlägt, war einer der prächtigsten Sakralbauten seiner Zeit. Dem eigentlichen Tempel selber konnte bislang kaum ein Rest zugeordnet werden, den ihn umgebenden Bauten nur wenige Bruchstücke. Dazu zählt eine 1871 entdeckte und heute in Istanbul aufbewahrte Inschrift in Altgriechisch, der damaligen Verkehrssprache in weiten Teilen des Mittelmeerraums: „Kein Angehöriger eines anderen Volkes darf innerhalb der Schranke um den Tempel und Umgebung treten. Wer ergriffen würde, wird selbst für den Tod verantwortlich sein, der daraus folgt.” Von diesen Warnschildern gab es mehrere, 1936 wurden Bruchstücke eines weiteren Exemplars entdeckt. Wenn es diese Tafeln bereits zu Jesu Zeiten gab, dann hat er sie mit Sicherheit gesehen. Denn besagte Schranke trennte den laut Josephus für Juden zugänglichen zentralen Teil der Tempelplattform vom umgebenen „Vorhof der Heiden”. Dieser war der Ort, wo Jesus den Geldwechslern die Tische umwarf – vermutlich aber nur an einer Ecke, denn der Hof war riesig und voller Stände von Opfertierhändlern, Imbissbuden und Souvenirläden. Es muss zugegangen sein wie auf einem Basar. Die Tempeleinigung war also nur ein symbolischer Akt, der nicht allzu lange gedauert haben kann – sonst wäre Jesus schon bei dieser Gelegenheit verhaftet worden.

Vor Pontius Pilatus

Von den in den Evangelien erwähnten Schauplätzen der Verhaftung und der Verurteilung Jesu (siehe „Jesus in Jerusalem”) lassen sich nur zwei zumindest ungefähr lokalisieren: Wenn Jesus vor Herodes Antipas stand, wie Lukas berichtet, muss das im Hasmonäerpalast in der Oberstadt gewesen sein. Dank Flavius Josephus ist dessen Lage in etwa bekannt, auch wenn keinerlei Reste erhalten sind, die sich ihm zweifelsfrei zuordnen lassen. Die entscheidende Szene des Verhörs und der Verurteilung durch den Präfekten Pontius Pilatus hat dagegen wahrscheinlich am ehemaligen Palast Herodes des Großen stattgefunden. Als die mit Abstand luxuriöseste Immobilie der Stadt, die zugleich bestens durch Sicherheitskräfte zu schützen war, hatten die Römer dort ihr Hauptquartier eingerichtet, das Prätorium. Nun ist auch von diesem von Josephus beschriebenen Prunkbau nichts stehengeblieben, abgesehen von dem Sockel eines der drei Türme, wahrscheinlich des Hippikos, in der Nordwestecke des an der Stadtmauer gelegenen Areals. Er ist heute Teil der mittelalterlichen Zitadelle am Jaffa-Tor. Wo aber in dem Palastgelände saß nun Pilatus zu Gericht? Der Evangelist Johannes schreibt, es sei eine gepflasterte Fläche namens Gabbatha gewesen, die aramäische Bezeichnung für einen freien, erhöhten Ort. Wo genau das gewesen sein könnte, dazu hat zumindest ein Jerusalem-Archäologe eine klare Meinung.




Der gebürtige Brite Shimon Gibson argumentiert in seinem Buch „Die sieben letzten Tage Jesu” (dtv München 2009) für den Innenhof einer archäologisch nachweisbaren Toranlage südlich des Mariamne-Turms, mittels der man – vermutlich über eine Treppe – durch die an dieser Stelle doppelte westliche Stadtmauer direkt in den Palast gelangte. So spekulativ sie ist, hat die Theorie vom „Gerichtstor” doch den Charme, zu erklären, wie der Prozess, wie von Johannes beschrieben, im Inneren des Prätoriums stattfinden und trotzdem eine größere Volksmenge zugegen sein konnte. Eine solche hätten die römischen Sicherheitskräfte kaum ins Innere ihres Hauptquartier gelassen. So kann man sich vorstellen, dass sie außen vor dem geöffneten und bewachten Tor versammelt war.


Es gibt nur wenige antike Städte, über die wir mehr wissen als über das Jerusalem zur Zeit Jesu – auch wenn so gut wie nichts mehr davon übrig ist.
Jesus in Jerusalem
Die Stadt im Jahre 30
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