Vom Todesstreifen
zur Kiezidylle

Text und Bilder von STEFAN TOMIK
intro

Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Tausende Menschen strömen in den Westteil der Stadt. Ein Jahr später verschwindet die DDR von der Landkarte. Und heute? Eine Spurensuche auf dem früheren Mauerstreifen, 25 Jahre danach.

Berlin-Mitte

Gut 160 Kilometer liegen vor mir. Meine Radtour beginnt am Brandenburger Tor – wo sonst? Das Tor stand damals frei im Sperrgebiet zwischen Ost- und West-Berlin. Heute ist die Bebauung auf beiden Seiten herangerückt. Kein Tourist, der nicht ans Brandenburger Tor fährt. Dutzende iPhones klicken.

Ein chinesischer Fremdenführer versucht, seine Gruppe zusammen zu halten. Er reckt einen Stab mit Mickey Mouse in die Höhe. Die Mauer ist nicht mehr zu sehen. Die Schilder des Berliner Mauerwegs hätte ich fast übersehen: Sie hängen auf 3,60 Meter Höhe – so hoch reichte damals der Betonwall.

Nach nicht einmal hundert Metern die erste Gedenkstätte. An der Ecke Ebert-/Scheidemannstraße hängen weiße Kreuze zum Gedenken an die Mauertoten. Davor steht ein Kreuz für Heinz Sokolowski, „nach sieben Jahren DDR-Haft erschossen auf der Flucht“. Das war am 25. November 1965.

Virtuelle Mauer: Die doppelte Pflastersteinreihe zeigt ihren Verlauf

Der Verlauf der Mauer ist genau erkennbar: an einer doppelten Reihe Pflastersteine, die im Asphalt eingelassen wurden.

Am Reichstag ist der Weg versperrt. Kein Durchkommen ohne Hausausweis. Der Umweg führt zwischen geleckten Bürofassaden hindurch. Es sind die Büros der Bundestagsabgeordneten. Ein Ehepaar auf dem Bürgersteig, er zu ihr: „Wer macht denn det bloß allet sauber?“

Der Bundestagskomplex wächst und wächst: Das Elisabeth-Lüders-Haus wird bis an die Luisenstraße erweitert. Mit dem Paul-Löbe-Haus auf der westlichen Spreeseite ist es durch zwei Fußgängerbrücken verbunden. Die untere ist öffentlich begehbar, die obere bleibt Abgeordneten und Mitarbeitern vorbehalten. Für diese Brücke findet der Berliner Volksmund einen treffenden Begriff: „Höhere Beamtenlaufbahn“.

Am Spreeufer hinter dem Reichstagsgebäude sind wieder sieben weiße Kreuze in das Geländer eingelassen. Die Namen der Opfer wurden eingraviert. Die Mauer grenzte damals direkt ans Ufer. Auf der Spree fährt ein Ausflugsschiff. Es regnet, aber die Stimmung an Bord ist prächtig.

Früher Grenze, heute Ausflugsziel: Gute Stimmung auf der Spree-Rundfahrt


Die Mauer selbst ist fast verschwunden. „Mauerspechte“ zertrümmerten sie gleich nach der Wende mit Hammern und Spitzhacken. Nur Teile konnten erhalten werden, einen hat sich der Bundestag einverleibt. Beim „Mauermahnmal“ handelt sich wohl um das bestbewachte Mauerstück überhaupt. Es steht in einem kahlen hohen Raum mit Sichtbetonwänden. Wer hinein will, muss eine Sicherheitsschleuse wie am Flughafen durchlaufen. Zwei gelangweilte Aufseher schieben die Taschen der wenigen Besucher durch den Röntgenscanner. Und das alles für ein paar Meter Mauer - mehr gibt es hier nicht zu sehen. Auf die einzelnen Elemente hat man die Zahl der Toten geschrieben, für jedes Jahr seit dem Mauerbau. 1962 kamen mit Abstand mehr Menschen um als in jedem anderen Jahr: 64.

Gleich auf den ersten Kilometern des Mauerwegs sind die Erinnerungen allgegenwärtig. Der erste erschossene Flüchtling: Günter Litfin starb am Nachmittag des 24. August 1961. Er wollte über die Bahngleise fliehen, die zum Lehrter Stadtbahnhof führten. Aber Grenzer entdeckten ihn und gaben Warnschüsse ab. Litfin sprang am Humboldthafen in den Spandauer Schifffahrtskanal, der Ost- und West-Berlin trennte. Kurz vor dem rettenden Ufer schoss ihm ein Grenzpolizist in den Kopf.

Günter Litfin, erschossen am 24. August 1961 Foto: Ralf Roletschek

Der erste getötete DDR-Grenzsoldat: Peter Göring wurde am 23. Mai 1962 von einem Querschläger aus der Dienstwaffe Westberliner Polizisten getroffen. Göring und andere Grenzer schossen auf einen jungen Flüchtling. Sie gaben mehr als 120 Kugeln ab. Westberliner Polizisten wollten dem Jugendlichen zu Hilfe kommen und erwiderten das Feuer. Später machte die DDR Göring zum Helden, benannte Schulen und Straßen nach ihm. Das „Neue Deutschland“ verklärte die Angelegenheit zu einem „Mordüberfall“ auf die DDR-Grenzsoldaten.

Der Weg leitet mich zum Invalidenfriedhof. Er ist mehr als 250 Jahre alt. Hier bestattete Preußen seine Honoratioren aus Adel und Militär. Und auch die Nazis brachten ihre Helden hier unter die Erde. Deren Grabsteine wurden gleich nach Kriegsende abgeräumt. Die DDR ließ später auch die preußischen Grabsteine tonnenweise davonkarren. Nach dem Mauerfall wurden viele wieder an ihren Platz gestellt, die der Nazi-Größen natürlich nicht.

Ich folge den Schildern durch ein idyllisches Wohngebiet am Flussufer und über die Chausseestraße zum Park am Nordbahnhof. 410 Meter Hinterlandmauer sind hier noch erhalten.

Zugewuchert: 410 Meter Hinterlandmauer im Park am Nordbahnhof


Wenige Meter weiter hat der Hochseilgarten „Mount Mitte“ geöffnet. Besucher können in luftiger Höhe durch aufgeschnittene Trabis balancieren. Ein eigenwilliger Umgang mit der Geschichte. Gleich daneben ist die „Beach Bar“ eingezogen. Im einstigen Todesstreifen wird heute gespielt, geklettert und gechillt.

Einmal abbiegen und ich erreiche die Bernauer Straße. Was haben sich hier für Schicksale abgespielt! Die Häuser auf der Ostseite reichten direkt bis an die Grenze. Die Menschen seilten sich aus den Fenstern ab, um in den Westen zu fliehen. Oder sie sprangen in die Freiheit.

Bundesstiftung Aufarbeitung,
Fotobestand Uwe Gerig


Die DDR ließ zunächst das Erdgeschoss zumauern. Später wurden die Gebäude evakuiert und bis auf die Fassade abgerissen. Noch später fiel auch sie. Vom Westen her gruben Fluchthelfer Tunnel; viele von ihnen waren einst selbst aus der DDR geflüchtet. Und nach der Wende begann in der Bernauer Straße der Abriss der Mauer. Aber ein langes Stück ließ man stehen und machte daraus eine Gedenkstätte. Durch Schlitze in der Hinterlandmauer kann man in den Todesstreifen gucken.

Es gab heftigen Widerstand. Die Mauer muss weg und zwar vollständig – so dachten damals viele. Der Berliner Senat schmiedete sogar Pläne, die Bernauer Straße sechsspurig auszubauen. Engagierte Bürger und ein paar Politiker haben das verhindert.

Die Besucher der Gedenkstätte müssen aufpassen. Ausgerechnet hier häufen sich in letzter Zeit Fälle von Trickdiebstahl. Vermeintlich Taubstumme bitten um Geld – und wenn man das Portemonnaie zückt, entreißen sie es einem.

Im Mauercafé sitzt Wolfgang Koch. Er hat einiges zu erzählen. Die DDR machte ihm das Leben schwer, nachdem sein Bruder 1971 mit einem Schlauchboot in den Westen abgehauen war. Seinen Arbeitsplatz als Flugzeugmechaniker am Flughafen Schönefeld gab Koch auf, weil er verdächtigt wurde, selbst auch fliehen zu wollen. Das System hatte ihn auf dem Kieker. „Diesen Vertrauensentzug habe ich nicht länger ertragen“, erzählt er heute.

Wolfgang Koch litt unter der SED-Schikane

Koch wurde Hausmeister, aber nach drei Monaten fristlos entlassen – aus politischen Gründen. Ein Hausmeister! „Ich habe damals ein Buch gelesen von Robert Havemann. Das Buch ging im Freundeskreis herum, und es war so beliebt, dass man es nach nur einem Tag an den nächsten Leser weitergeben musste. Ich habe mir also Notizen gemacht, und die hat die Stasi eines Tages aus meiner Dienstwohnung geholt. Ich musste mich erklären und habe gesagt, ich lese, was ich interessant finde. Und meine Verhörerin sagte: Ach so, Genosse Koch, dann würden Sie also auch ‚Mein Kampf‘ lesen? Und ich sagte: ja, warum denn nicht? Da holte sie unter dem Tisch die vorbereitete Entlassung hervor. Das war alles eine ganz große Farce.“

Wolfgang Koch will mich ein Stück mit dem Fahrrad begleiten. Wir radeln die Bernauer Straße hoch. Seit sie wieder durchgängig befahrbar ist, hat der Verkehr stark zugenommen. Pulks von Radfahrern donnern den abschüssigen Radweg hinunter. Ein „Ost-West-Backshop“ und das „Ost-West-Café“ locken Kunden mit DDR-Devotionalien in ihren Schaufenstern.

Flexibel war Koch wie kaum ein anderer. Er arbeitete als Busfahrer und Fahrlehrer. An der Abendschule holte er das Abitur nach und bestand mit Auszeichnung, aber Germanistik ließ man ihn nicht studieren. Die Flucht seines Bruders hing ihm lange an.

Als blutiger Laie hatte Koch Mitte der siebziger Jahre angefangen, sich als Kabarettist auszuprobieren. 1984 bewarb er sich bei den Städtischen Bühnen Erfurt. „Der Intendant war Genosse, aber er war Mensch geblieben. Ihn interessierte nicht so sehr, was in meiner Kaderakte stand, sondern das Talent, das er vor sich auf der Bühne sah.“

Wir erreichen den Mauerpark, der früher im Todesstreifen lag. Auf einem Hügel thront das Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion. Dazu fällt Koch ein Witz ein: „Kriegen wir das voll?“, habe man sich gefragt, als das Stadion gebaut wurde. Die Antwort: „Mit Sicherheit.“ Es ist eine der Pointen, die jeder DDR-Bürger verstand. Übersetzt für Wessis: Stasi-Leute geben im Stadion die Zuschauer, während die echten Besucher draußen anstehen müssen. So hielt man es oft bei politisch heiklen Veranstaltungen.

Politisches Kabarett in der DDR war nicht immer einfach, erzählt Koch. Die Pointen mussten verschlüsselt werden. Und die Kabarettisten versuchten mit Tricks, die Zensoren zu beeinflussen.

Video: Wolfgang Koch über politisches Kabarett in der DDR

Wolfgang Koch könnte lamentieren, sich beschweren über ein System, das ihm das Leben mies machte, aber er tut es nicht. Im Gegenteil: Er findet immer wieder Formulierungen wie „Ich hatte das Glück, dass...“. Fast könnte man den Eindruck bekommen, er habe ein eigentlich glückliches Leben geführt in der DDR. Aber so war es nicht. Er wundert sich über die Leute, die sich so weit mit dem System arrangiert hatten, dass sie wirklich nichts vermissten. Er ärgert sich über die, die schon vergessen haben, wie entbehrungsreich das Leben war, damals hinter der Mauer.

Wir radeln unter der Bornholmer Brücke hindurch, die Weltgeschichte schrieb, weil sich hier in der Nacht des 9. November der erste Schlagbaum hob. Weiter geht es an Kleingärten vorbei, an Holzhäuschen und Gartenzwergen. Wer zu DDR-Zeiten hier seinen Garten hatte, durfte zwar eine Leiter besitzen, musste sie aber anketten. Das sei immer wieder kontrolliert worden, erzählt Koch. Die Stasi wollte verhindern, dass die Leiter zur Flucht genutzt wurde.

Der Mauerweg führt ein Stück an der Westseite der früheren Grenze entlang. Gedrungene bürgerliche Häuser, nichts Herrschaftliches. Zu Mauerzeiten muss hier der Hund begraben worden sein. Absolute Randlage. Koch zeigt mir das frühere Haus eines Schulfreundes in der Brehmestraße. Das Grenzsperrgebiet begann damals exakt an der Bordsteinkante. Betreten durften es nur die Anwohner und Personen mit besonderer Befugnis. Wenn Koch seinen Freund abholen wollte, musste er von der Straße aus Steinchen ans Fenster werfen.


Reinickendorf

Ich fahre allein weiter nach Norden. Der Mauerweg wird zur Schlaglochpiste, zu meiner Rechten öffnet sich ein Industriegebiet. Büsche setzen dem Weg von beiden Seiten zu.

Mauerweg zwischen Bahndamm und Industriegebiet

Plötzlich taucht eine vier Meter hohe Skulptur auf, der „Berlin Bird“. Ein schottischer Künstler hatte den Stahlvogel schon 1988 an der Westseite der Mauer aufgestellt, und zwar so, dass er über sie in den Osten guckte. Nach der Wende wurde das Kunstwerk zusammen mit einem originalen Mauersegment hierher versetzt.

Nur wer genau hinschaut, entdeckt noch die Relikte der Trennungszeit: Die Wendeschleife am Wilhelmsruher Damm hat heute ihre Funktion verloren. Aber so ist es doch immer: Man sieht nur, was man sucht.

Rosenthal: Vom Todesstreifen zum Naherholungsgebiet

In Rosenthal öffnet sich die Landschaft und gibt den Blick frei bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz. Der Mauerstreifen ist jetzt ein Naherholungsgebiet und fest in der Kontrolle von Joggern, Radfahrern und Hundebesitzern.

In Hermsdorf treffe ich Joachim Rudolph. Er floh 1961 mit einem Freund aus der DDR. Als die beiden feststellten, dass sie in diesem Land keine Zukunft mehr hatten, suchten sie eine Stelle, an der die Flucht möglich schien, und fanden sie im Tegeler Fließ, das heute ein Naturschutzgebiet ist. Wir radeln zu dem Ort, an dem Joachim Rudolph mit Anfang zwanzig sein gewagtes Unternehmen begann. Heute ist er 76 Jahre alt, aber mit seinem Rad legt er ein ordentliches Tempo vor, ich strampele hinterher. Die Route hat sich Rudolph auf einem Zettel notiert.

Video: Joachim Rudolph erzählt von seiner Flucht aus der DDR

Schließlich erreichen wir das Tegeler Fließ im Norden von Berlin. Wo die Straße endet, steigen wir ab und machen ein paar Schritte. Die Erinnerung kommt zurück. Joachim Rudolph erzählt, wie akribisch sein Freund und er die Flucht planten und was für absurde Dinge er in seinem Aktenkoffer mitschleppte.

In Lübars liegt noch das Kopfsteinpflaster von anno dazumal. Es gilt als das letzte noch fast vollständig erhaltene Dorf Berlins. Die Feuerwache, in der Joachim Rudolphs Flucht endete, gibt es noch. Von dem Polizeiposten ist dagegen nur noch das Holzhaus zu sehen, in dem er mal untergebracht war. Jetzt, wo die Mauer weg ist, braucht Lübars mit seinen hundert Einwohnern und dreihundert Pferden keine Polizeiwache mehr.

Ich fahre wieder allein weiter. Mein nächstes Ziel ist der „Entenschnabel“. Das ist ein Stück DDR, das in die BRD hineinragte wie ein spitzer Schnabel. Die Straße „Am Sandkrug“ hatte an jeder Seite eine Reihe Häuser. Direkt hinter ihnen stand die Mauer.

Ich komme von Süden über einen Fußgängerweg. An dessen Seite rechts und links stehen zwei Mauersegmente. Sie wurden nachträglich hier aufgestellt. Direkt dahinter ein Neubau, es ist einer von vielen in dieser Gegend.

Ein regelrechter Bauboom habe in den letzten fünfzehn Jahren eingesetzt, erzählt eine Anwohnerin. Es gebe in der Gemeinde Glienicke/Nordbahn mittlerweile so viele Kinder, dass die Kita-Plätze knapp und das neue Rathaus schon zu klein geworden seien. Viele Beamte zögen hierher. Es gibt ultraschnelles Internet und viel Grün, die S-Bahn fährt direkt ins Regierungsviertel. Ein Eichhörnchen trippelt über die Straße, ein Schwarm Gänse zieht über unsere Köpfe hinweg nach Süden. Was für eine Idylle!

Der „Sandkrug“ ist noch immer eine Sackgasse. Die neue Fahrbahndecke wurde einfach über die alte drüberasphaltiert. Auf dem Wendeplatz sind noch die ursprünglichen Betonplatten zu sehen. Der Mauerweg führt mich weiter nach Norden.

Flüchtlingsgedenken und Fast Food an der Oranienburger Chaussee

Am Straßenrand steht ein Mahnmal für Friedhelm Ehrlich und Michael Bittner. Ehrlich wurde 1970 im Grenzgebiet angeschossen und verblutete; Bittner wurde 1986 erschossen, als er fliehen wollte. Das Grundstück hinter dem Mahnmal hat sich nach der Wende eine Schnellrestaurantkette gesichert.

In der Bieselheide verläuft der Mauerweg auf dem alten Westberliner Zollweg. Mein Fahrrad rüttelt heftig über das grobe Kopfsteinpflaster. Im Wald schläft spiegelglatt der Hubertussee, früher zu drei Seiten von der Grenze umgeben.

Keinen Kilometer weiter liegt die ehemalige Führungsstelle Bergfelde, heute ein Wachturm inmitten einer grünen Oase. Der Turm hatte drei Stockwerke: Im Erdgeschoss war eine Arrestzelle für „Grenzverletzer“ untergebracht, darüber gab es einen Aufenthaltsraum und ganz oben den Beobachtungsstand mit Rundum-Blick. Auf dem Dach thronten Suchscheinwerfer. Früher war rings um den Turm alles kahl. Die Grenzsoldaten brauchten freie Sicht. Nach dem Mauerfall initiierten zwei Lehrer eine groß angelegte Baumpflanzaktion. Zigtausende Setzlinge wurden in den Sand gesteckt. Den Turm nutzt heute die Deutsche Waldjugend.

Früherer Wachturm in Hohen Neuendorf: Naturschutz statt Grenzschutz

Zwischen Hohen Neuendorf und Frohnau ist von der Grenze nicht mehr viel zu sehen. Hier lag einst ein Hundelaufgebiet, in dem die Mauer von Hunden bewacht wurde. Eine Tafel erinnert an eine der wenigen Frauen, die die Flucht über die Grenze wagten: Marinetta Jirkowsky konnte mit ihrem Verlobten und dessen Freund die Hinterlandmauer und den Signalzaun überwinden, dann wurde das Trio von den Grenzern entdeckt. Beide Männer schafften es auf die Mauerkrone, aber für Marinetta Jirkowsky war die Leiter zu kurz. Von Schüssen getroffen stürzte sie zu Boden. Sie starb nur kurze Zeit später.

Der Mauerweg führt über die Autobahn 111. Ein Stück weiter nördlich lag einst die Grenzübergangsstelle Stolpe. Durch sie lief der Transitverkehr aus West-Berlin nach Norden. Über den Grenzübergang führte auch eine BVG-Buslinie. Die Westberliner Busse, die von Tegel nach Stolpe fuhren, durften keine Werbung zeigen.

Im Wald hinter der Autobahn sammeln zwei Frauen Pilze. Dieser Platz im früheren Todesstreifen sei besonders ergiebig, erzählt eine von ihnen. Vor allem Steinpilze gebe es hier. Aber es sei noch zu früh. In zwei Wochen wollen sie wiederkommen.

An der Oder-Havel-Wasserstraße entlang radele ich nach Süden. Wo einst die Grenze verlief, fahren jetzt Sportboote. Ein Rentner erzählt mir, dass DDR-Bürger sogar versucht haben sollen, als Schwan getarnt über den Nieder Neuendorfer See in den Westen zu fliehen. Aber das ist nicht verbürgt.

Video: Günter Himmelstoß über den Grenzturm Nieder Neuendorf

Verbürgt ist dagegen die Geschichte des Grenzturms Nieder Neuendorf. Er wurde noch 1987 erbaut, also nur zwei Jahre vor dem Mauerfall. Der Turm diente dem Grenzregiment 38 „Clara Zetkin“ als Führungsstelle für einen zehn Kilometer langen Abschnitt. Heute steht das Gebäude unter Denkmalschutz. Es beherbergt ein winziges Museum, um das sich Freiwillige wie Günter Himmelstoß kümmern.


Spandau

Im Forst Nieder Neuendorf sind die Spuren der Grenze nicht mehr so offensichtlich. Im Wald verstreut ragen noch Betonpfeiler und Stahlrippen aus dem Boden.

Der Eiskeller war das Gegenstück zum „Entenschnabel“: Ein Stück Westen, das in den Osten hineinreichte. Das Gebiet war nur durch eine vier Meter breite und 800 Meter lange Straße mit dem Rest der Stadt verbunden. Drei Familien lebten damals auf Bauernhöfen im Eiskeller. Im Herbst 1961 machte ihre Situation durch die Geschichte eines zwölf Jahre alten Jungen Schlagzeilen. Der Bub hatte berichtet, er sei morgens auf dem schmalen Zugangsweg von DDR-Grenzpolizisten festgehalten worden. Die britische Militärregierung schickte 30 Soldaten in den Eiskeller. Die Schüler begleitete zeitweilig ein Panzerspähwagen. Jahrzehnte später stellte sich der Bericht des Jungen als falsch heraus. Er hatte einfach eine Ausrede benutzt, um die Schule zu schwänzen.


In Falkenhagen erinnern eine Stele und ein Holzkreuz an Willi Block, ein weiteres Maueropfer, eines von vielen. Aber diese Geschichte ist von besonderer Tragik. Willi Block hatte es im Januar 1962 schon in den Westen geschafft, kehrt aber in die DDR zurück, um seine Frau nachzuholen. Dabei wird er gefasst und ins Arbeitslager gesteckt. Das darf er verlassen, weil er sich als Spitzel verpflichtet.

In aller Öffentlichkeit hingerichtet: Willi Block starb im Stacheldraht

Noch einmal flieht Block im August 1962 über die Grenze, noch einmal hat er Glück. Als er erfährt, dass sich seine Frau scheiden lassen will, kehrt er im Dezember nochmals in die DDR zurück, wo man ihn wieder festnimmt. Nach zweieinhalb Jahren Haft in Bautzen wird er vorzeitig entlassen und zur Arbeit ins Betonwerk Staaken geschickt, obwohl es in der Nähe der Grenze liegt. Im Februar 1966 unternimmt Block – offenbar angetrunken – seinen dritten Fluchtversuch. Am hellichten Tag überwindet er fast alle Barrieren, verfängt sich aber auf den letzten Metern im Stacheldraht. Westberliner Polizisten und sogar Reporter verfolgen, was dann geschieht: Überforderte DDR-Grenzer verlangen, Block solle zurückzukommen, aber der liegt regungslos da und kann nicht weiter. „Erschießt mich doch, ihr Hunde“, ruft er und versucht ein letztes Mal, sich zu befreien. Die Grenzer knallen ihn kaltblütig ab, mit einer Kalaschnikow aus 15 Metern Entfernung. Block wurde 32 Jahre alt.

An der Promenade am Groß-Glienicker See reihen sich Designer-Häuser an wunderbar restaurierte Villen. Ohne Vorwarnung stehe ich in einer Sackgasse. Ich drehe um und schlage mich an einem Spielplatz zurück zur oberhalb liegenden Straße. Der Mauerweg macht jetzt einen Umweg. Denn die Grenze verlief einst über die Havel. Mit dem Rad muss ich Jungfernsee, Krampnitzsee und Lehnitzsee umrunden, um auf die andere Seite zu kommen. Bei Anbruch der Dunkelheit erreiche ich die Glienicker Brücke.

Steglitz-Zehlendorf

Die Brücke war im Krieg teilweise zerstört worden und konnte erst 1949 wieder eröffnet werden. Doch die Freiheit währte nicht lang: Schon 1952 machte die DDR sie für den privaten Autoverkehr dicht, Fußgänger brauchten eine Sondergenehmigung. Die Glienicker Brücke war eine der letzten Verbindungen von West-Berlin ins Umland. Im Juli 1953 wurde sie komplett gesperrt. Drei Mal tauschten DDR und BRD in der Mitte der Brücke Geheimagenten aus.

Hinter der S-Bahn-Station Griebnitzsee verliert sich der Mauerweg. Schilder fehlen. Oder meine Landkarte stimmt nicht mehr. Ich ziehe das Handy mit der Mauerweg-App heraus. Die hilft auch nicht weiter. Laut der App bin ich hier richtig. Aber mein Rad versinkt im Sand der Parforceheide. Das soll der Mauerweg sein?

Am Teltowkanal liegt der frühere Kontrollpunkt Dreilinden an der Transitautobahn aus dem freien Berlin nach Westdeutschland. In der BRD sprach man von einem „Kontrollpunkt“, nicht von einem Grenzübergang, weil die innerdeutsche Grenze ja nicht anerkannt wurde. Auf der DDR-Seite lag hingegen die „Grenzübergangsstelle (GÜSt) Drewitz“. Es war die größte ihrer Art. West-Berliner mussten hier stundenlang warten und sich von den Grenzern schikanieren lassen.

Für die DDR war es nachteilig, dass die Autobahn, nachdem sie West-Berliner Gebiet verlassen hatte, am Teltowkanal noch einmal über BRD-Territorium führte, das von Westen in die DDR hineinragte. Es hieß „Albrechts Teerofen“. Also wurde die Autobahn verlegt und mit ihr wanderte 1969 der Grenzübergang/Kontrollpunkt Dreilinden-Drewitz nach Osten. Aus dem ehemaligen Abfertigungsgebäude von Westberliner Polizei und Zoll wurde damals eine Gaststätte, die Jahre später aufgegeben wurde. Das Holzhaus ist heute zugewuchert.

Ich zwänge mich mit dem Rad durch den Zaun neben dem Eisentor. Auf der Brücke über den Teltowkanal sind noch die Bus- und Pkw-Spuren des früheren Kontrollpunktes zu erkennen. Wie lange noch? Die Natur holt sich zurück, was ihr überlassen wurde.

Checkpoint Bravo verschwindet im Gewerbegebiet

Von der neuen „Grenzübergangsstelle“ Drewitz blieb nach ihrem Abriss 1993 nur der Kommandantenturm erhalten. Er steht unter Denkmalschutz – und in einem Industriegebiet. Der Turm hieß im amerikanischen Sprachgebrauch „Checkpoint Bravo“ und beherbergt heute eine kleine Ausstellung.

Tempelhof-Schöneberg

In Marienfelde verlasse ich den Mauerweg für einen kleinen Abstecher. Vier Millionen Menschen flüchteten zwischen 1949 und 1990 aus der DDR. Für sie errichtete die Stadt Berlin 1953 das Notaufnahmelager Marienfelde. Es wurde mehrmals erweitert, und war doch fast immer überbelegt. Marienfelde war eine Durchgangsstation. Wer hier ankam, durchlief eine lange und äußerst bürokratische Aufnahmeprozedur einschließlich einer medizinischen Untersuchung. Am Ende stand dann meistens die Einbürgerung. In einem Teil des Geländes sind heute Asylbewerber untergebracht.

Neukölln

Im Neuköllner Stadtteil Buckow entdecke ich eine zweigeteilte Straße, genaugenommen sind es zwei Straßen, die parallel verlaufen. Genau hier ist die Landesgrenze. Auf der Berliner Seite liegt die Ringslebenstraße, ihr Asphalt ist alt und löchrig. Direkt daneben hat das Land Brandenburg die „Grenzstraße“ gebaut. Sie erschließt ein Neubaugebiet.

Beide Straßen sind sehr eng. Praktisch wäre es gewesen, sie zu einer Straße normaler Breite zusammenzulegen. Aber die beiden Fahrbahnen bleiben getrennt durch einen Kantstein, gerade so hoch, dass er nicht überfahren werden kann.

Zwei Frauen führen ihre Hunde aus. Die eine wohnt zehn, die andere schon siebzehn Jahre hier. Auf der einen Seite, der Brandenburger, dürften die Hunde frei herumlaufen, erzählen sie. Auf der anderen, der Berliner Seite, herrsche Leinenzwang. Soweit die Theorie.

Die Masten stehen noch, die Lampen hängen nicht mehr

Kurze Zeit später wird der Mauerweg durch ein Wohngebiet umgeleitet. Als sich die Landschaft wieder öffnet, weiden Pferde auf Koppeln. Auf deren anderer Seite stehen noch die alten Lampenmasten aus dem Grenzgebiet, die Lampen selbst hängen nicht mehr.

In Rudow schmiegt sich der Mauerweg an die A113. Als die Mauer fiel, hat man die Gelegenheit genutzt, die Autobahn zu verlängern. Für manche Anwohner ist das bitter. Die Mauer fällt, und eine andere wird errichtet: die Lärmschutzmauer.

Der Weg wird zwischen Autobahn und Teltowkanal eingeklemmt und zieht sich scheinbar endlos. Rechts liegt Treptow, links Neukölln. In der Stadt ist der Mauerverlauf dann wieder durch die doppelte Reihe Pflastersteine markiert. In der Heidelberger Straße könnte man sie - fälschlicherweise – für die Markierung eines Parkstreifens halten.

  • Heidelberger Straße: Der Grenzverlauf als Parkstreifen
  • Bouchéstraße: Gaslaternen auf der einen, elektrische Lampen auf der anderen Seite

Hinter der nächsten Ecke liegt die Bouchéstraße. In ihr lässt sich eine kleine Besonderheit beobachten: Auf der früheren Westseite stehen noch die alten Gaslaternen, auf der ehemaligen DDR-Seite elektrische „Peitschenlampen“.

Als ich mein Klemmstativ an einem Straßenschild anbringe, um ein Foto zu schießen, wird eine Gruppe von Männern neugierig, die zwanzig Meter weiter vor einem Kiosk stehen und den Feierabend begießen. Hinter meinem Rücken höre ich: „Was macht der Typ denn da?“ und (deutlich lauter): „Wir können auch die Polizei rufen!“

  • BouchéstraßeFoto: Privat
  • BouchéstraßeFoto: Privat

Aber das ist alles eher lustig gemeint. Schließlich kommt einer der Männer herüber. Er hat zwei Fotos in den Händen: Eines zeigt die Bouchéstraße mit der Hinterlandmauer, eines die Straße direkt nach dem Mauerfall.

Ost und West lagen hier so nahe beieinander wie sonst nur selten. Fluchten hat es gegeben, wissen die Männer zu erzählen. An einem gespanten Seil seien mal welche in den Westen geklettert. Gesehen hat das aber keiner von ihnen.

Friedrichshain-Kreuzberg

Der Mauerweg schlängelt sich am Landwehrkanal entlang und durch Kreuzberg. „No Border“ und „No Nation“ steht an einem Hauseingang kurz vor der Oberbaumbrücke.

  • Eastside Gallery: Unter Denkmalschutz - wen kümmert's?

Die East Side Gallery auf der anderen Spreeseite ist inzwischen weltbekannt und steht unter Denkmalschutz. Die Berliner Grafitti-Szene lässt das kalt. Die meisten Mauerstücke und ihre Kunstwerke sind beschmiert und verunstaltet.


Berlin-Mitte

In Mitte gibt sich Berlin edel und gediegen. Auf dem einstigen Mauerstreifen entstehen luxuriöse Büros und Wohnungen. Nicht jeder ist davon begeistert.

Am Checkpoint Charlie regiert der Kommerz. Ein Reisebus nach dem anderen rollt heran und spuckt eine Touristengruppe aus.

Alles ist hier Fake: Das historische Wachhaus am Checkpoint Charlie steht nicht mehr

An der Ecke Zimmer-/Friedrichstraße drängeln sich ein halbes Dutzend Fastfood-Buden, Souvenirhändler und – wie praktisch – ein Geldautomat. Ganz in der Nähe haben sich Mc Donald‘s und Starbucks eingenistet. Alle wollen an den Mauertouristen verdienen. Um halb zehn am Morgen bringen sich – trotz nasskaltem Wetter – uniformierte Laiendarsteller für ein Trinkgeld in Position. Alles hier ist Fake: Das originale Wachhäuschen am Checkpoint Charlie ist längst abgerissen. Der Berliner Senat hatte versäumt, es unter Denkmalschutz zu stellen.

Zwischen den Bürotürmen am Potsdamer Platz stehen noch ein paar Mauerstücke. Sie wirken ganz verloren.

In Sichtweite, am Leipziger Platz, wurde just ein neuer Shopping-Tempel eingeweiht. Um dem Ganzen einen historischen Touch zu geben, sind vor den Rolltreppen goldene Tafeln mit Zitaten von Kennedy und Obama eingelassen. Aber eigentlich geht es hier nur um Kommerz. Während die Kunden auf Freigängen über das Atrium flanieren, sind im Hintergrund noch Plattenbauten der ehemaligen DDR zu sehen.

Am Brandenburger Tor schließt sich der Kreis. Mehr als 160 Kilometer bin ich geradelt. Nicht überall ist der Mauerweg um das frühere West-Berlin befahrbar. Auch 25 Jahre nach der Wende wird noch um Grundstücke und Wegerechte gestritten, teilweise vor Gericht. Aber im ehemaligen Sperrgebiet wird heute wieder gejoggt und geradelt, gebaut und getafelt, gespielt und gefeiert. Berlin wächst wieder zusammen.